Bogensport Center Thomas Nibbe

Schießen mit dem Compoundbogen Teil 1 - machst du auch diesen einen Fehler?

Als ich angefangen habe, als freie Personal Trainerin zu arbeiten – damals noch während meines Studiums – hatte ich viele Klient*innen, die mit einem Compoundbogen zu mir kamen und eine Einweisung brauchten. Mit der Zulassung für die olympischen Spiele 2028 in Los Angeles ist der Compoundbogen präsenter den je. 

Aber bleiben wir realistisch: Viele Trainer:innen scheuen bis heute davor zurück, sich mit dem Compoundbogen zu beschäftigen:
Zu technisch. Zu kompliziert. Nicht anfängerfreundlich. Letzteres trifft tatsächlich zu, die ersten beiden Punkte nicht, soviel vorweg.

Dabei höre ich im gleichen Zuge oft noch diese Aussage:

„Mit dem Compoundbogen ist es doch leichter zu treffen.“

Na, kommt dir das bekannt vor? 🙄

Ein Satz, der mir jedes Mal ein Augenrollen abverlangt.

Im ersten Moment stimmt das vielleicht. Doch wer schon einmal mit dem Compoundbogen auf einem Wettkampf stand, weiß: Der Anspruch ist hier deutlich höher.

Kathi am Bogenplatz
Die Jagd nach der 10

Der Compoundbogen macht sich sämtliche Vorteile zunutze: zusätzliche Zieloptiken, schnelle Pfeilgeschwindigkeiten und ein mechanisches Release. Aber all diese Faktoren führen zu einer verschärften Konsequenz: Der Trefferbereich schrumpft.
Während Recurve-Schütz:innen mit einer soliden 9 meist noch gut leben können, ist beim Compound die 10 das einzige akzeptable Ziel.

Wir spielen also nach einem Hit-Miss-System:
10 – oder keine 10.

Wer zu oft keine 10 schießt, hat kaum Chancen auf eine Platzierung, geschweige denn auf eine Qualifikation. Mit dem Compoundbogen bist du ständig auf der Jagd nach Perfektion, oder dazu verdammt, dein Leben auf kleine Meisterschaften zu beschränken.

Wo bleibt eigentlich das Technikleitbild?

Und hier komme ich zum eigentlichen Punkt:
Ein wirklich einheitliches Technikleitbild für den Compoundbogen existiert kaum.

Wenn man sucht, findet man meist Inhalte, die eigentlich vom olympischen Recurve stammen – ergänzt um den Hinweis:

„So viel ist gar nicht anders, du hast nur einen anderen Ankerpunkt. Ach ja, und dein Druckpunkt ist eine Linie“

Klingt vertraut, oder?
Doch genau hier beginnt das Missverständnis.
Denn die biomechanischen Anforderungen und Kraftverläufe unterscheiden sich deutlich.

Als ich anfing, mich tiefer in die Materie einzuarbeiten, wurde mir klar: Das „fast identisch“ trifft schlicht nicht zu. Der Compoundbogen verlangt eine eigene Systematik, ein eigenständiges Technikverständnis.

Was das Schießen mit dem Compoundbogen so besonders macht

Beim olympischen Recurvebogen geht es darum, saubere Kraftlinien auf Stütz- und Zugseite zu erreichen und durch wiederholt präzise Auszugslänge ein konstantes Timing zu wiederholen. Das volle Zuggewicht liegt dabei auf den Fingern – und muss ständig gehalten werden.

Beim Compound dagegen überwindest du das volle Zuggewicht schon vor dem Vollauszug. Danach hältst du „nur“ noch.
Aber: Das Gesamtzuggewicht ist meist deutlich höher, und moderne Compoundbögen werden immer schwerer.

Mehr Masse bedeutet mehr Trägheit – und damit mehr Zielruhe aber auch mehr Herausforderung, den Bogen ruhig zu halten.
Hinzu kommen Vergrößerungslinsen im Scope, die präzises Zielen zwar erleichtern könnten – wenn du absolut ruhig stehst. Hier könnte ich gleich mehrere Blogbeiträge füllen, für heute beschränken wir uns aber auf die Basics.

Wie stehst du ruhig?

Die Zielruhe hängt von mehreren Faktoren ab:

  • Ein stabiler, ausgewogener Stand
  • Gute Core-Stabilität
  • Eine ruhige Schulter- und Armführung
  • Blickruhe im zielenden Auge

Je ruhiger du stehst, desto ruhiger zielst du. So weit, so bekannt.
Aber im Compound musst du zusätzlich Ungleichgewichte im Zuggewicht ausgleichen.

Um das zu schaffen, braucht es kräftige Stützseiten-Muskulatur. Viel Training hilft – oder eine kleine technische Anpassung:

Dreh deinen Oberkörper etwas mehr zur Scheibe auf.
So können größere Muskeln wie Brust und Latissimus mehr Haltearbeit übernehmen und entlasten die Schultergürtelmuskulatur.
Das Ergebnis: mehr Ruhe, mehr Kontrolle, mehr Präzision.

Und was ist mit der Stützlinie?

Gute Frage!

Die stützseitige Kraftlinie können wir vernachlässigen: Der Vollauszug ist durch die Auszugslänge des Bogens definiert, die Haltearbeit wird durch die Stützseite fast vollständig übernommen. Die Richtung wird durch die zugseitige Kraftlinie vorgegeben.
Eine zugseitige Kraftlinie lässt sich beim Compoundbogen meist leicht herstellen – der Ankerpunkt liegt weiter hinten, und das Haltegewicht ist geringer.

Im Gegensatz zum Recurve ist die Kraftlinie hier aber kein Muss, sondern eher ein Kann. Durch die Verbindung zwischen Hand und Release entsteht hier ein zusätzlicher Freiheitsgrad, der genutzt werden kann.

Trotzdem gilt: Beim Lösen des Schusses sollte sich die gesamte Kraft zu 100 % in Richtung der 10 auflösen – nach vorne, nicht zur Seite, nicht nach unten.

Wenn sich der Bogen also im Schuss leicht nach vorne bewegt, ist das völlig normal. Das zeigt, dass sich Stützarm und Schulter in Richtung der Scheibe auflösen – genau so soll es sein.

Auf der Zugseite gilt dasselbe: Das Release bewegt sich sauber nach hinten aus der 10 heraus. Und ja – dabei hilft die sogenannte Rückenspannung.

Aber bitte:
Rückenspannung ist kein Selbstzweck, sondern das Ergebnis eines Kräftegleichgewichts, das nach vorne (bzw. nach hinten) in der 10 endet.

klassische Stützlinie oly. Recurve ©Bogensport Center Thomas Nibbe
alternative Stützlinie Compound ©Bogensport Center Thomas Nibbe
Fazit: Compoundschießen ist nicht einfach "Recurve mit Rollen"

Mach also nicht den Fehler, zu glauben, Compoundschießen sei nur eine andere Version des Recurve – mit leicht verändertem Druck- oder Ankerpunkt.

Der Compoundbogen stellt andere Anforderungen an Technik, Körperkontrolle und mentale Ruhe.

Oder kurz gesagt:
👉 Ruhig stehen. Ruhig zielen. Ruhig lösen.

Die kommende Zeit nehmen wir dich mit in die Details unseres Compound-Technikleitbildes. Wir klären offene Fragen und besprechen Variationsmöglichkeiten.

Wir sehen uns beim nächsten Mal – bis dahin:
Präzise ins Gold!

Eure Johanna 🎯